Dienstag, 8. September 2020

Verurteilung statt Aufklärung

 

Die Stadt Bern diskutiert darüber, ob ein altes Wandbild in einem Schulhaus noch zeitgemäss sei. Andernorts wird über Denkmäler gestritten und über historische Persönlichkeiten, die vom Sockel gestossen werden sollen. Was heisst das? Was soll das? Sind wir gescheiter als unsere Vorväter? Sind wir moralisch besser als sie?

Wenn im 18. oder 19. Jahrhundert (oder meinetwegen ein paar hundert Jahre früher) jemand auf einen Sockel gehoben wurde, hiess das: Diese Person oder Persönlichkeit hat etwas Gutes und Nützliches getan für die damalige Gesellschaft. Columbus zum Beispiel hatte zufällig Amerika entdeckt, weil er einen schnelleren Weg nach Indien suchte. Aber weil er Amerika entdeckt hatte, hat er wie viele Abenteurer vor ihm, die neue Inseln und Länder entdeckten, auch den Grundstein für schlimme Verbrechen an Völkern und ihren Kulturen gelegt. Müssen also alle Denkmäler von Entdeckern gestürzt werden? Ohne sie kein Kolonialismus, wegen ihnen Zehntausende von Toten durch eingeschleppte Krankheiten und kriegerische Auseinandersetzungen.

Oder Karl der Grosse, einer der Begründer des heutigen Europas. Seinen Lebensweg begleiten Schlachten und dementsprechend viele Plünderungen, Verletzte, Krüppel und Tote, Vergewaltigte und Verhungerte. Müssen wir deswegen alles, was mit ihm jemals in irgendeiner Verbindung stand, eliminieren?

Wäre es jedoch nicht die Aufgabe der Pädagogen, unvoreingenommen über die Geschichte und ihre Heldinnen und Unhelden zu dozieren? Die jungen Menschen darüber aufzuklären, was unsere Vorfahren Positives und Negatives für die Menschheit geleistet haben und der Frage nachzugehen, weshalb die damalige Zeit sie dafür geehrt (oder gevierteilt) hat? Warum dozieren die Pädagogen nicht darüber, dass jede Epoche das, was positiv und das, was negativ war, aufgrund ihres Wissenstandes und aufgrund der aktuellen Situation und der (Moral-)Vorstellungen der Menschen anders beurteilt?

Stattdessen ereifern sich rote und grüne Politiker und Pädagogen, als seien sie alle Bussprediger wie Girolamo Savonarola (1452-98) höchstpersönlich. Wer für sich die Absolutheit der Wahrheit und damit der einzig richtigen Moral beansprucht, wer die Leistungen Anderer in Gut und Böse einteilt, ist selber wohl nicht besser als jene, die er z.B. wegen Rassismus verurteilt. Auch er teilt die Menschheit, auch er verurteilt Menschen. Und auch er ruft dazu auf, die gemäss seinem Kriterienkatalog «Bösen» zu verfolgen und zu vernichten.

Echte aufklärerische Toleranz sieht anders aus. 

Und für Alle, denen dieser Gedanke jetzt neu scheint: Das Zeitalter der Aufklärung begann zirka in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Es scheint leider nach rund 270 Jahren endgültig vorbei und/oder vergessen zu sein.

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